Whistle Blower

 

Da hängen wir also geschlagene drei Wochen in Chiclayo fest. Chiclayo? Wo ist das, was macht man denn da? Um ehrlich zu sein, nix! Die Stadt rechtfertigt eigentlich allenfalls einen zweistündigen Zwischenstopp, Vorräte auffüllen und weg...

Wir aber sitzen hier fest und warten auf eine neue Kupplung für den Ivo. Nur die Hauptstraßen in der Stadt sind asphaltiert, die Nebenstraßen staubige Sandpisten – wie eine Glocke hängt der Staub über der Stadt. Und in dieser Glocke ist es vor allem eins, laut! Unsäglich laut.

 

 

Es hupt, dödelt, pfeift, schreit und klingelt aus allen Ecken. Ampeln werden einfach ignoriert. Wenn sich eine Lücke auftut, fahren alle gleichzeitig los – alle etwa zwei Meter weit, bis sie sich gegenseitig blockieren und weil das blöd ist, dann wieder alle anfangen zu hupen. Ist zwar auch blöd, gehört aber dazu. Autos, Lkw, Mopeds und die unzähligen Tucktucks, die hier an postmoderne Postkutschen erinnern – bei deren Anblick ich eigentlich immer erwarte, dass Graf Dracula persönlich gleich die Plastiktür an der Seite öffnet – sie alle hupen! In das allgegenwärtige Hupkonzert mischt sich dann das Schreien der Straßenhändler, dazu schrillen aus jedem Winkel  Alarmanlagen, die damit ihren Sinn wohl schon verfehlt haben dürften – es piepen die rückwärtsfahrenden LKW … es ist laut.

 

 

Und als Fußgänger hat man so seine liebe Not schrammenfrei die andere Straßenseite zu erreichen. Da helfen weder Zebrastreifen noch grüne Fußgängerampeln, alles was Räder hat, ist stärker, ignoriert uns Ungeschützte… es sei denn, wir werden als potentielle Passagiere also Kunden erkannt. Eigentlich ist jedes Auto in der Stadt ein Taxi und um zu signalisieren, dass wir es als solches ja auch nutzen könnten, wird was? Natürlich gehupt! Normalerweise reicht es ein oder zweimal den Kopf zu schütteln, um die Taxihupe nach zwei oder dreimal verstummen zu lassen. Die Collectivos sind da hartnäckiger, bei ihnen kommt zur Hupe noch die gebrüllte Richtungsangabe: „Pimentel, Modelo, Bolognesi!“ brüllt der Beifahrer aus dem offenen Seitenfenster und schlägt dazu permanent gegen die Karosserie des Kleinbusses… und wenn wir zu nah an einer „Bushaltsstelle“, also einer Collectivosammelkreuzung,  vorbeilaufen, müssen wir uns zur Wehr setzen, um nicht am Arm geschnappt und in eines der Vehikel gezogen zu werden – völlig wurscht, ob wir nach Pimentel, zum Modelo oder zur Bolognesi wollen.

 

Die ganze Stadt ist eine einzige Kakophonie aus resolutem „Tööt“, enervierenden „trötröt“, „pfling“, wrrrng“, plingplingpling“, „mööp“, „paludelpaludel“, „schrill“… all das schallt irgendwann so in den Ohren, dass Du nicht mehr weißt, ob du nun Hugo oder Egon, vielleicht auch beides heißt und wenn ja, in welcher Reihenfolge. Wir versuchen bei einem kühlen Bierchen die Antwort zu finden und kriegen nur wieder mehr auf die Ohren, der Straßenlärm von draußen wird nur weitgehend von entweder einer peruanischen Daily Soap aus dem Fernseher oder Gedudel aus dem überdimensionierten Lautsprecher, gerne natürlich auch beidem gleichzeitig, übertönt. Apropos Lautsprecher, die gehören natürlich auch noch zum Stadtton – mindestens jeder zweite Laden versucht mit ohrenbetäubender Musik oder launigen Werbesprüchen auf sich aufmerksam zu machen. Es ist laut!

 

Neben unseren Stadtbummeln vertreiben wir uns die Zeit mit Unterkunfthopping, wechseln zwischen Hotels und Privatunterkünften und lernen so Chiclayo noch besser kennen. Zum Beispiel in einer Privatunterkunft, über Airbnb gebucht. Die Beschreibung verspricht eine eigentlich ruhige Wohngegend, warnt allerdings auch, dass in der Nachbarschaft gelegentlich große Feste gefeiert würden. Tatsächlich gibt’s die Feste im Haus. Die Familie vermietet praktisch ihr komplettes Reich. Mehrere Zimmer an Touristen, die sich mit der Familie dann die Küche teilen und am Wochenende gibt’s dann hochprofessionelle Kindergeburtstage in der Gemeinschaftsküche und im leer geräumten,  aufwendig geschmückten Wohnzimmer.

 

 

Wir beschließen derweil in die hupende Stadt zu gehen, bleiben aber nicht lange genug, um das Schauspiel zu verpassen. Zwanzig Kleinkinder mit ebenso vielen Elternpaaren sitzen gestriegelt und geputzt auf kleinen weißen Plastikstühlchen und werden von professionellen Mickey Mouse Animateuren bespasst… dazu gibt’s rosa Torte und natürlich für jeden auch noch ein kleines rosa Mickey Mouse - Körbchen mit Naschereien für den Heimweg… am späten Abend  bleibt vom strahlenden, natürlich in zartes rosa gewandeten Geburtstagskind nur noch ein letztes, völlig überfordertes Schluchzen, die letzte Inkacola wird geschlürft und die Party neigt sich dem Ende.

 

 


 

Eine andere und weniger gesellige Privatunterkunft finden  wir dann tatsächlich in einer recht ruhigen Wohngegend. Eigentlich sind nur die üblichen Geräusche zu hören: der Eismann kündigt sich und sein Fahrrad mit Kühlbox bimmelnd an, hin und wieder ein Gemüsehändler, der sein reiches Angebot gegen Häuserwände brüllt und der Alteisenhändler, der verkündet, dass er alles nimmt, was sonst keiner braucht – fast wie daheim also. Wäre da nicht der Whistle Blower. Er ist der Wachmann im Viertel und hat seine kleine Wachmannbretterbude schräg neben unserer Unterkunft an der Straße stehen. Meist patroulliert er aber die Straße hoch und runter, sodass seine Trillerpfeife mal mehr mal weniger laut zu hören ist. Zu hören ist sie aber eigentlich immer. In Schiedsrichtermanier verweist er ungewollte Eindringlinge vom Patz, gibt kund, dass er alles jederzeit im Blick hat oder trillert auch einfach nur so, um den zahlenden Anwohnern zu zeigen, dass er auf seinem Posten ist – natürlich und gerade auch nachts!

 

Ich taufe ihn für mich Eduard und wenn ich nachts wach liege und unseren eifrigen Whistle Blower höre, stelle ich mir vor, wie Eduard in seinem Kabuff auf dem wackligen Holzstuhl sitzt, der Kopf in den Nacken gerutscht ist, die Trillerpfeife als Schnuller im Mund auf und ab wippt und mit jedem Schnarscher gleich auch der schrille Pfiff entwischt…

 

Inzwischen haben wir all das hinter uns gelassen, sind längst in den himmlischen peruanischen Anden, gönnen unseren Ohren `ne Kur und den Augen… ach, was soll ich sagen, guckt euch die Fotos an!